Wiederlesen No. 39: Holger Franke liest Wolfgang Neuss
Galerie Kungerkiez, Karl-Kunger-Str. 15
Holger Franke über diese Lesung:
Im Dezember 2023 wäre er 100 (in Buchstaben: einhundert) Jahre alt geworden.
Wolfgang Neuss, gestorben am 5. Mai 1989.
Gestorben? Wirklich?
„Das ist die Botschaft, die: Wir haben gar keine Chance, nicht zu leben. Wir leben immer. Die Botschaft ist zwar nicht tröstend, weil man ja auch ableben muss. Aber man lebt nur ab, um zu leben. Es gibt keinen Tod in dem Sinne. Es gibt keine Chance, nicht zu leben. Keine. Man lebt immer. Immer, immer, immer.“
Aus Neuss' Selbstzeugnis:
„...Beruf selbsterfunden. Zunächst ein Konglomerat aus Wanderprediger ,… laotse-schem Durchslandreiten und spritzige Halbwahrheiten verbreiten, später durch zage Television Berliner Nante-Typ, zahlreiche Bücher über seine 2-Stundenprogramme solo...“
Ich, Holger Franke, habe sie gesehen, gehört, genossen, bestaunt – und nicht vergessen: seit Mitte der Sechziger, im Keller des Hauses am Lützowplatz, in der Komödie am Ku-Damm...
Und ich kann Euch sagen: wer sich diesem Wort- Denk- und Spielwirbelsturm je ausgesetzt hat, angefacht vom Ungeheuer von Loch Neuss, der (und/oder auch die natürlich), hat was Einmaliges, Unbeschreibliches, Unnachahmbares, Unvergessbares erlebt.
Ich bin froh, dass ichs hatte, weil ichs noch habe, nicht nur im Kopf. Der kluge Volker Kühn hat es wunderbar auf den Punkt gebracht:
„… diese Kombination von Kopf und Bauch! Ich hab das bei keinem Menschen so erlebt, dass einer mit dem Kopf so fühlen und mit dem Bauch so denken kann. Und alles was es an gelebtem Widerspruch gibt, ist in diesem Mann immer präsent gewesen...“
Zum Glück gibt es das Buch "Der totale Neuss, Gesammelte Werke“, herausgegeben von Volker Kühn. Da ist alles drin zum Nachlesen und, wenn man ihn, seine Stimme, Spreche und Singe noch im Ohr hat, zum innerlichen Nachhören.
Ich hatte vor, einige Texte auszuwählen und vorzulesen. Probierte es und beschloss, selbiges sein zu lassen. Ja, wenn ich mich in ihn verwandeln könnte, oder seine Stimme spräche aus mir heraus, das könnte eventuell klappen mit der richtigen, angemessenen Droge. Ich bleibe lieber nüchtern. Fast alle Neuss-Texte sind an seine Präsenz, seinen Ton und Körper gebunden. Müssen aus ihm kommen. Ihn nachmachen, nachahmen? Nein, danke.
Zum Glück gibt’s aber seine schön scharfe Filmsatire "Wir Kellerkinder" (1960). Und im Buch den den Film erzählenden Monolog-text. Funktioniert wie ein Hörspiel. Und lässt sich gut vorlesen. Weil der Neuss hier eine Geschichte erzählt, eine fabelhafte natürlich, und kein Kabarett macht.
Apropos „Kabarett macht“. Neuss: ich habe kein Kabarett gemacht. Ich war Kabarett.
Wenn meine Lesung Lust auf den Film (und aufs Buch natürlich) macht, umso besser. Und auf Youtube gibt’s noch ne Menge Neuss zu sehen, auch ein sehr schönes filmisches Selbstportät von 60 Minuten, und einen feinen filmischen Nachruf von 30 Minuten. Und auf Spotify gibt’s allerhand zu hören.