Auf Wiederlesen No. 42: Holger Franke liest Tilla Durieux "Eine Tür steht offen"
Galerie KungerKiez, Karl-Kunger-Str. 15
Tilla Durieux, geboren 1880, war die Tochter des Chemieprofessors Richard Godeffroy und seiner Ehefrau, der ungarischen Pianistin Adelheid Ottilie Augustine Godeffroy, geborene Hrdlicka.
Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie in Wien. Da die Mutter die Berufswahl der Tochter ablehnte – der Vater war bereits 1895 verstorben –, nahm sie später als Künstlernamen Durieux an, abgeleitet von du Rieux, dem Geburtsnamen ihrer Großmutter väterlicherseits.
Sie debütierte 1902 in Olmütz, wechselte dann nach Breslau und war von 1903 bis 1911 am Deutschen Theater in Berlin engagiert, Direktion: Max Reinhardt. 1903 spielte sie die Salome in Oskar Wildes gleichnamigen Stück. Diese Rolle wurde ihr großer Durchbruch als Schauspielerin - und als Porträtmodell. Ihr späterer Ehemann Paul Cassirer, Verleger, Kunsthändler, Galerist, arrangierte Porträtsitzungen mit namhaften Künstlern und Fotografen ihrer Zeit. In den folgenden Jahren wurde sie gemalt von Lovis Corinth, Max Liebermann, Max Slevogt, Emil Orlik, Auguste Renoir, Oskar Kokoschka. Ernst Barlach und Herman Haller schufen Büsten von ihr.
Von 1911 bis 1914 trat sie am Berliner Lessingtheater auf, ab 1915 am Königlichen Schauspielhaus und von 1919 an am Staatstheater. Wichtige Rollen hier waren die Gräfin Werdenfels in Wedekinds der Marquis von Keith(1920) und die Titelrolle in seinem Drama Franziska (1924/25, auch in Wien).
Ab 1907 begann Durieux, zusammen mit dem Kulturpolitiker und Musikpädagogen Leo Kestenberg, Theaterkollegen uind Koleginnen, an probefreien Sonntage in Arbeiterbezirken Berlins Matineen aus Werken von Goethe, Schiller, Dehmel, Herwegh, Chamisso u.a. zu rezitieren, zu singen und Monologe und Szenen aufzuführen. Der Beginn des Krieges machte dem zunächst ein Ende. Noch während des Krieges setzte sie diese Arbeit fort, nunmehr auch mit Texten zu Krieg und Frieden.
In der Zeit befreundete sie sich mit Rosa Luxemburg, die sie immer wieder, auch finanziell, im Einvernehmen mit ihrem Ehemann Paul Cassirer unterstützen konnte.
Im Mai 1919 half sie dem Schriftsteller Ernst Toller, der als einer der Protagonisten der Münchener Räterepublik wegen Hochverrats gesucht wurde, mit Geld und geheimen Unterkünften.
1927 beteiligte sie sich an der Finanzierung der sozialistischen Piscator-Bühne, dem Theater am Nollendorfplatz, trat auch unter seiner Regie auf.
1933 verließ die Durieux Deutschland zusammen mit ihrem jüdischen Ehemann, dem Unternehmer Ludwig Katzenellenbogen. Sie flohen in die Schweiz, nach Ascona, wo sie Freunde hatte.
Doch bald war das zeitlich begrenzte Visum abgelaufen. Nach Deutschland konnten sie nicht zurück, um ein neues zu beantragen, denn Durieux‘ Mann wurde steckbrieflich gesucht. Von Ausweisung bedroht, floh das Paar 1934 nach Zagreb in Kroatien. Tilla Durieux kannte die Stadt durch Gastspiele und ihren Großvater Hrdlicka, der dort Jura studiert hatte.
Sie lernte dort die Gräfin Zlata Lubienski (–1969) kennen, eine entfernte Verwandte, die eine enge Freundin wurde und deren Villa bis 1955 ihr Zuhause war.
Ab 1934 sanierte und führte sie, mit großem Einsatz und Erfolg, ein Hotel im italienischen Abbazia (heute Opatija, Kroatien), das ihr Mann 1936 als Teilhaber übernommen hatte.
1938 wurde in Italien die Lage für Juden gefährlich. Über die Schweiz, Paris und Prag flüchtete sie mit ihrem Mann zurück nach Zagreb.
Während Tilla Durieux versuchte, in Belgrad für beide ein Visum in die USA zu bekommen, wurde sie vom deutschen Bombenangriff und Überfall auf Belgrad im April 1941 überrascht und von ihrem Mann getrennt. 1941 wurde er von der Gestapo in Thessaloniki verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt.
1944 beteiligte Tilla Durieux sich an der Roten Hilfe für die Partisanen unter der Führung von Josip Broz Tito. Die Villa Lubienski in Zagreb wurde ein Anlaufpunkt für die Partisanen. Im Schlafzimmer der Durieux war die Kasse der Roten Hilfe versteckt. Sie betrieb eine Kaninchenzucht, um zur Lebensmittelversorgung der Hausbewohner beizutragen und vergrub im Garten Flaschen, in denen sie Geheimdokumente für die Partisanen verbarg.
Nach Kriegsende nähte sie Kostüme für ein privat von Vlado Habunek (1906–1994) gegründetes Puppentheater. Das Puppentheater wurde als staatliches Puppentheater „Vjesnik“ weitergeführt. Tilla Durieux behielt ihre Beschäftigung und nahm die jugoslawische Staatsangehörigkeit an.
1952 kehrte sie erstmals nach Deutschland zurück und gastierte an Theatern in Berlin, Hamburg und Münster. Sie pendelte zwischen Zagreb und Berlin.
1954 veröffentlichte sie in West-Berlin ihre in Zagreb geschriebenen Memoiren Eine Tür steht offen.
Durieux starb am 21. Februar 1971, in Berlin.
Aus dem letzten Kapitel der Erinnerungen von Tilla Durieux:
Wenn ich nun als alte Frau alle diese Gestalten, die ich in diesem Buch vorbeiziehen ließ und die vielen, die ich nicht aufzählte, überschaue, kommt es mir wie ein Märchen vor, und wenn ich nicht meine Tagebücher besäße, würde ich es mir selber nicht glauben, dass ein Menschenleben soviel fassen konnte...
Wahrhaftig: ein bewegtes und ungemein bewegendes Leben!
Sagt Holger Franke, nachdem er das Buch nunmehr, im Jahre 2024, wieder gelesen hat – zuerst las er es 1964 – hatte schon davor sein Erlebnis mit der Durieux: Im Jahr 1958, da war er 14. Da gastierte sie, mit der Landesbühne Hannover, im Schützenhaus von Bad Gandersheim, wo er aufs Gymnasium ging. Sie gaben das Stück Philemon und Baucis, ein damals bekanntes Stück des Autors Leopold Ahlsen. Es spielt während der Hitlerokkupation in Jugoslawien, erzählt von einem alten Bauerpaar, das in seiner Hütte einen verwundeten Partisanen aufnimmt, ihn gesund pflegt und zur Flucht verhilft zurück in den Widerstand. Ein feindlicher Nachbar hat die Frau und den Mann bei der SS denunziert. Sie werden erschossen. Die Durieux spielte die Baucis. Herzergreifend einfach und groß. Einfach groß. Sechs Jahre später, bei Lektüre ihres Buches, begreift er erst ganz, was er da erlebt hat auf der kleinen Bühne: eine wahrhaftige Menschendarstellerin schöpft ihr Spiel aus einer eigenen Erfahrung, ihres eigenen wahren Menschenlebens.